Georg Heym: Der Gott der Stadt

Georg Heyms „Der Gott der Stadt“ reiht sich ein in eine Liste brachialer Lyrik, die der mit nur 25 Jahren sehr früh gestorbene Poet uns hinterlassen hat. Man sollte meinen, dass Heym – angesichts dessen, was er in diesem Gedicht schreibt – wahrscheinlich aufs Land gezogen wäre, wenn er etwas länger gelebt hätte. Aber lesen Sie selbst dieses wahnsinnig kraftvolle Gedicht mitsamt einiger Gedanken.

Dieses Gedicht gehört zu den bekanntesten Werken deutscher Lyrik – hier finden Sie mehr berühmte Gedichte.

Ein humanoides Ungeheuer sitzt auf einem Häuserblocl, überall schwarze Wolken und feurige Stürme in der städtischen Nacht
„Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust..“
Bild: Dall-E

Wenn wir von anderen brachialen Gedichten Heyms reden dann meinen wir damit allen voran Der Krieg, welches Sie ebenfalls auf unserer Seite finden. Andere Werke finden Sie z. B. hier. Nun aber los mit dem Gedicht!

Das Gedicht

Der Gott der Stadt

Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
Die letzten Häuser in das Land verirrn.

Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
Die großen Städte knieen um ihn her.
Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.

Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik
Der Millionen durch die Straßen laut.
Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.

Das Wetter schwält in seinen Augenbrauen.
Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.

Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.

Gedanken zum Gedicht

Puh, da ächzt es aber in den Balken bei so viel Brachialität, oder? Und damit ist der Balken im Gehirn gemeint, der die beiden Hemisphären miteinander verbindet. Der Gott der Stadt ist sicher kein Gedicht, dessen Bedeutung einem direkt ins Gesicht springt, außer vielleicht „Stadt schlecht und grausam“. Denn der „Gott der Stadt“ ist natürlich die Stadt selbst, oder das Gefühl, das in ihr herrscht, oder…?

Ja, oder was? Was sehen Sie in diesem Gedicht? Ist der Gott, um den es hier geht, einer, an den man glauben muss? Ist es ein bösartiger Gott, der den Menschen tatsächlich schlechtes bringt? Oder ist es eher sowas wie „der Geist“ der Stadt im Sinne der Art und Weise, wie die Menschen sich das Leben in der Stadt schaffen? (Mir fällt es gerade schwer hier verständlich zu schreiben: Ich meine es so, wie den „Geist der Freiheit“, nicht so wie den „Geist der aussieht wie ein Spannbetttuch und durch die Flure schwebt“).

Ich weiß nicht viel über Georg Heym, nur dass er beim Versuch, das Leben seines Bruder zu retten, selbst ertrunken ist. Dem jungen Mann ist also ein gewisses Maß an Empathie zuzuschreiben – sogar eine so große Empathie, das eigene Leben für das Leben eines anderen aufs Spiel zu setzen. Wie interpretieren wir das Gedicht mit diesem Hintergrund? War Heym ein zartbesaiteter, grundguter Mensch und die Stadt ihm deshalb zu viel? Möglich.

Die Wortwahl in „Der Gott der Stadt“ ist absolut brutal. Es strotzt vor Feuer, Rauch und Zorn und Lärm, man erhält keine Atempause bei der Lektüre. Die Gespräche, Streitereien und vielleicht auch die Schreie der Menschen in den Straßen und Häusern der Stadt vereint sich zu einer unerträglichen Kakaphonie. Zu einem „Korybanten-Tanz“ – damit sie es nicht googlen müssen: Korybanten waren „Vegetationsdämonen und orgiastische Ritualtänzer“ in der griechischen Mythologie.

Der „Gott der Stadt“ hält unzählige Möglichkeiten der Interpretation bereit, was Lyrik ja (zumindest aus Gedichtefreundscher Sicht) so wertvoll macht – die Einordnung in den Kontext der Entstehungszeit, des Autors und der eigenen Erlebnisse bereitet allein schon Freude. Aber ganz abgesehen davon ist es ein Vergnügen zu sehen, wie die Aneinanderreihung von Worten Gefühle auszulösen vermag, und wie man aus einer (vermeintlich) schönen Sprache wie dem deutschen das maximale an Grausamkeit hervorrufen kann.

Bessere Interpretationen des Gedichts finden Sie zum Beispiel auf studyflix.

Wo Sie schon mal hier sind…

Lesen Sie gerne noch ein paar eigene Gedichte. Oder denken Sie doch auch mal an Kurz Tucholsky, der immerhin 22 seiner auch nur 45 Lebensjahre mit Heym geteilt hat, und seine Augen in der Großstadt.

Die Nacht, beschrieben für jemanden der sie noch nie gesehen hat

Die Nacht hat viele Sterne
und manchmal auch Sternschnuppen
sie hat nicht sehr viel Wärme
manchmal frieren ab die Fingerkuppen.

Es glitzert alles in der Stadt
und rundherum ist Stille
irgendwo fressen sich Wölfe satt
und manchmal zirpt auch eine Grille.

Früh morgens singt die Nachtigall,
das ist ein Vogel, falls du das nicht weißt
dass nachts die Sonne scheint? Ein Sonderfall:
das sieht man nur, wenn man an den Nordpol reist.

Vielleicht schaust du dir sie einfach mal selber an
die Nacht, du wirst sie schätzen.
Schaust hinauf zu Mond und Sternen, dann
wird ihr Charme auch dich verhexen.

Flattermann

Es flattert ein Falter
über den Asphalt
der Asphalt ist schon kalt
in der sternenklaren Nacht.
Der Falter sagt „Alter,
die Welt ist wie gemalt
und ich habe gerade
keinen Gedanken gedacht.“
Und so fliegt er weiter
über ihm die Plejade
und alles was er noch macht
in dieser Nacht,
macht er heiter.

Zwei Verliebte auf Dächern

Tausend Lichter löschen
tausend gehen an
ein Teil der Stadt gibt Ruhe
ein Teil erst startet, dann
fällt eine Ruhe über die Straßen.
Unterbrochen von unstetem Krach
Motorenheulen, Plaudertaschen
nur wir
wir liegen rauchend auf dem Dach.
Der Himmel ist orange getaucht
die Sterne blitzen knapp dahinter
den Zigarettendampf in Luft gehaucht
es wirkt, als wär‘ es kalt und Winter.
Unten wogen Menschenmassen
teils auf den Straßen, teils in Daunen
ich möchte deine Hand anfassen
möchte sie spüren, fassen, staunen –
Ich lasse meine Hand bei mir.
Meine Augen und Gedanken.
ich zwinge sie hinweg von dir
spürst du wie die Häuser wanken?
Vier Millionen Menschenträume
die niemand je geträumet hat
vier Millionen Gedankenräume
es ist Sommer in der Stadt.