Georg Heym: Der Krieg

„Der Krieg“ ist das bekannteste Gedicht von Georg Heym – einem der einflussreichsten deutschen Dichter aller Zeiten, der wegen eines Schlittschuhunfalls gerade mal 26 Jahre alt geworden ist. 1911 schafft er es in unnachahmlichen Worten, die Gefühle und die Angst einzufangen, die der nahende – und schließlich eintretende Krieg – mit sich bringen.

Dieses Gedicht gehört zu den bekanntesten Werken deutscher Lyrik – hier finden Sie mehr berühmte Gedichte.

Die Silhouetten dutzender kriegerisch wirkender Menschen mit Beilen und Schwerten inmitten rot leuchtenden Rauchs zur Verbildlichung des Gedichts "Der Krieg" von Georg Heym
Und mit tausend roten Zipfelmützen weit
Sind die finstren Ebnen flackend überstreut,
Und was unten auf den Straßen wimmelt hin und her,
Fegt er in die Feuerhaufen, daß die Flamme brenne mehr.

Foto von Hasan Almasi auf Unsplash

Hier finden Sie den Text des Gedichts und einige Gedanken. Bei Wikipedia finden Sie mehr Gedichte von Georg Heym.

Viel Spaß!

Das Gedicht

Georg Heym – Der Krieg

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.

In den Abendlärm der Städte fällt es weit,
Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit,
Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.

In den Gassen faßt es ihre Schulter leicht.
Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht.
In der Ferne wimmert ein Geläute dünn
Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn.

Auf den Bergen hebt er schon zu tanzen an
Und er schreit: Ihr Krieger alle, auf und an.
Und es schallet, wenn das schwarze Haupt er schwenkt,
Drum von tausend Schädeln laute Kette hängt.

Einem Turm gleich tritt er aus die letzte Glut,
Wo der Tag flieht, sind die Ströme schon voll Blut.
Zahllos sind die Leichen schon im Schilf gestreckt,
Von des Todes starken Vögeln weiß bedeckt.

Über runder Mauern blauem Flammenschwall
Steht er, über schwarzer Gassen Waffenschall.
Über Toren, wo die Wächter liegen quer,
Über Brücken, die von Bergen Toter schwer.

In die Nacht er jagt das Feuer querfeldein
Einen roten Hund mit wilder Mäuler Schrein.
Aus dem Dunkel springt der Nächte schwarze Welt,
Von Vulkanen furchtbar ist ihr Rand erhellt.

Und mit tausend roten Zipfelmützen weit
Sind die finstren Ebnen flackend überstreut,
Und was unten auf den Straßen wimmelt hin und her,
Fegt er in die Feuerhaufen, daß die Flamme brenne mehr.

Und die Flammen fressen brennend Wald um Wald,
Gelbe Fledermäuse zackig in das Laub gekrallt.
Seine Stange haut er wie ein Köhlerknecht
In die Bäume, daß das Feuer brause recht.

Eine große Stadt versank in gelbem Rauch,
Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühnden Trümmern steht
Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht,

Über sturmzerfetzter Wolken Widerschein,
In des toten Dunkels kalten Wüstenein,
Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,
Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.

Gedanken zu diesem Gedicht

Als Kind hatte ich eine große Angst vor dem Krieg, obwohl ich nicht einmal genau wusste, was das ist. Ich weiß noch, wie ich meine Eltern fragte, ob es auch bei uns Krieg geben könne, was sie verneinten. Dann fragte ich meine Lehrerin, Frau Stühmeier, die – etwas ehrlicher, aber für mich nicht gerade beruhigend – meinte, es sei zwar unwahrscheinlich, aber es könne auch bei uns Krieg geben. Überall eben.

In den zwanzig Jahren darauf habe ich die Angst vor dem Krieg verloren, war aber natürlich trotzdem mitfühlend, wenn von irgendwo her leises Flüstern in den Randspalten der Zeitungen über einen fernen Konflikt herwehte, sagen wir im Kongo, oder aber wütendes Brüllen die Titelseite einnahm, wie damals während des Irakkriegs.

Nun hat das Gedicht auch für uns Deutsche wieder mehr Gesicht bekommen. Es ist zum Zeitpunkt, in dem ich diesen Text verfasse, gerade einmal fünf Monate her, dass die Notrationen in den Online-Shops ausverkauft waren und ich nachts, wegen irgendetwas aufwachend, im Halbschlaf meinen Newsfeed aktualisierte, nur um plötzlich hellwach zu sein: Ein Atomkraftwerk sei beschädigt.

Existentielle Ängste sind meist sehr fern, können aber sehr schnell näher kommen.

Dass ein Land in Europa ein anderes Land in Europa überfällt, das passt vielleicht in Georg Heyms Zeit, vor hundert Jahren – aber nach 2022?

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief.
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.

Heym personifiziert den Krieg. Er hat geschlafen, steht jetzt auf. Vielleicht weil nach ihm gerufen wird, immer lauter, bis er die Rufe nicht länger ignorieren kann. Rückblickend sagen nun viele, dass er schon lange gerufen wird, schon seit der Krimbesetzung, oder sogar viel länger. Und doch sah das, was in der Ukraine geschah, für die meisten von uns (wenn wir es überhaupt mitbekamen), nicht wie ein Krieg aus. Und für die uninformierten unter uns, noch nicht mal wie ein Vorbote, zumindest nicht für, das was aus ihm wurde.

In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.

Und dabei hätten wir diesen Dämon doch bemerken müssen. Und er müsste allen Beteiligten Angst einjagen, dieses riesige Monstrum, das das letzte Licht der Nacht einfach so zerquetscht. Stattdessen rufen auch heute noch Menschen begeistert nach ihm, egal, ob das eigene Licht dabei ebenfalls erlischt – die Ehre, der Ruhm, das Land, die Vergangenheit – alles ist wichtiger. Besonders für die, die in ihren Palästen sitzen, für die der Krieg nur ein Befehl ist, dem andere folgen müssen.

In den Abendlärm der Städte fällt es weit,
Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit,
Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.

Eigentlich möchte ich in meinen Begleittexten gar nicht so sehr interpretieren und auch gar nicht den Vergleich zur aktuellen Zeit überstrapazieren – dafür ist der Krieg in der Ukraine einerseits zu schlimm, als dass ich ihn von meinem bequemen Sommerschreibtisch beschreiben muss. Andererseits will ich in diesen Texten vor allem schwelgen – ob der Genialität der hier beschriebenen Dichter und Gedichte. Und meine Güte – „Der Krieg“ ist vielleicht das Gedicht mit den besten Metaphern auf engem Raum, das ich kenne.

Man fühlt die Beklemmung, die die Leute hier ergreift. Die Städte, sie sind ohnehin laut. Aber plötzlich ist da etwas, das noch lauter ist. Das nicht zu ignorieren ist, Frost und Schatten. Der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis – es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß. Wenn Sie, wie ich, ein Gedichtefreund oder eine Gedichtefreundin sind, muss ich ihnen nicht erklären, warum ich bei dieser Zeile auch beim hundersten Mal eine Gänsehaut bekomme.

Es gibt in der sehr populären Netflix-Serie „Stranger Things“ eine Szene (Spoiler Alarm), in der die Mutter des verschollenen Will Byers es schafft, mit ihrem in einer anderen Dimension gefangenen Sohn zu kommunizieren. Der junge Mann kann eine Weihnachtslichterkette in ihrer Wohnung zum Leuchten bringen. Sie sagt ihm, dass sie einmal leuchten soll für „ja“ und zwei Mal leuchten für „nein“. Er versteht es. Sie fragt ihn dann, ob er lebt. Einmal leuchten. Sie atmet durch und strahlt. Dann fragt sie ihn „are you safe“ – Bist du in Sicherheit? Die Lichterkette leuchtet zwei Mal und mit der Mutter zusammen rutscht dem Zuschauer das Herz in die Hose.

Es ist eine Kunst, aber vielleicht keine allzu hohe, diese Gefühle im Zuschauer einer Fernsehserie auszulösen. Aber haben Sie schonmal das gleiche Gefühl nach gerade einmal acht Zeilen Text verspürt?

Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um.
Und keiner weiß.

Ich finde es vergleichbar.

Mit grandiosen Verbildlichungen und Vermenschlichungen schreitet fort und endet gleichsam dieses Gedicht, das wie kein zweites schon in der ersten Zeile in sich hineinreißt.

Wäre Heym etwas älter geworden – wer weiß, ob er dieses lyrische Werk überhaupt je hätte toppen können. Oder ob es irgendjemand vermag.