Der „Osterspaziergang“ von Goethe – nie gehört? Da sind Sie sicher nicht allein. Aber wenn wir Ihnen erzählen, dass das Gedicht ein Auszug aus „Faust“ ist – das dürfte Ihnen etwas sagen, oder? Und wenn wir jetzt noch die letzte Zeile zitieren, nämlich „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“ – dann wird Ihnen sicher klar, warum dieses Gedicht auf keinen Fall auf der Seite des Gedichtefreunds fehlen darf!
Dieses Gedicht gehört zu den bekanntesten Werken deutscher Lyrik – hier finden Sie mehr berühmte Gedichte.

Bild: Dall-E
Auf dieser Seite lesen Sie das Gedicht und einige Gedanken. Wir haben noch viel mehr von Goethe in petto, zum Beispiel den Zauberlehrling, sowie eine Auswahl seiner berühmtesten Gedichte.
Viel Spaß!
Das Gedicht
Goethe: Osterspaziergang
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche,
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
Im Tale grünet Hoffnungs-Glück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dort her sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt’s im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurück zu sehen.
Aus dem hohlen finstern Tor
Dring ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbes Banden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluss, in Breit‘ und Länge,
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und, bis zum Sinken überladen
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet gross und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.

Überlegungen zum Gedicht
Ich würde tippen, dass 95% meiner Besucher hier nicht klar war, dass der Spruch „Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein“ erstens aus dem Osterspaziergang stammt und zweitens eigentlich „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“ lautet, dass da also noch ein Apostroph und ein „s“ hinten dran gehört.
Aber sei’s drum, schauen wir uns doch das Gedicht doch mal unabhängig davon an. Sicherlich, Goethe hat berühmtere Gedichte geschrieben und vor allem auch solche von größerer Dramatik – denken Sie nur an den Erlkönig, wo ein sterbendes Kind einen Geisterfürsten sieht, oder an den „Fischer„, wo ein „feuchtes Weib“ einen Angler ertränkt, oder an den Prometheus. Der Osterspaziergang jedoch ist ein Werk leiserer Töne, ein Naturgedicht, das aber einen wundervollen Einblick in die menschliche Psyche nach einem langen Winter gewährt.

Bild: Dall-E
Tatsächlich ist gerade, in dem Moment ich diesen Text schreibe, genau diese Jahreszeit erreicht: Wo manch wärmlich-sonniger Tag noch von Kälteeinbrüchen und Minusgraden überschattet wird, sich die kalten und wärmlichen Tage aber langsam voneinander ablösen. Einige Knospen sind bereits zu erkennen, es grünt das Hoffnungs-Glück! Die Hoffnung auf den Sommer, der uns von dem kargen Tagen des Winters erlöst. Die Sonne duldet kein Weißes! Selbst oben in den Bergen, die den Tal umgeben, schmilzt der Schnee dahin. Überall regt sich Bildung und Streben, die Schneeglöckchen dominieren, die Narzissen lösen sie Tag für Tag ab, die Krokusse sind schon startbereit. Und noch stecken zwischen den Tannen kahle Äste, die jedoch schon bald mit frischem Grün.. naja, begrünt sein werden.
Und wie die Natur kommen auch die Menschen aus ihren Gemäuern hervor, wo sie hustend und niesend die dunklen Tage verbrachten: Jeder sonnt sich heute so gern! Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selber auferstanden. Wunderbar, wie auch hier die Jahreszeiten als Sinnbild für das Leben und die Lebensphasen gesehen werden, wobei ja immer der Herbst das Lebensende, der Winter den Tod und der Frühling das neu entstandene Leben darstellen. Wir waren vielleicht nicht ganz tot, aber der Frühling lässt uns von den Halbtoten auferstehen! Warum war eigentlich der „Herr“ im Winter tot? Naja, fragen wir mal besser nicht so genau nach.
Und nun ist er also da, der Frühling und zufrieden jauchzet gross und klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.
Vielleicht finden Sie das Gedicht nicht so denkwürdig wie andere Werke von Goethe, weil es keine epischen oder gespenstischen Geschichten behandelt. Aber die Sprache in diesen paar Zeilen ist, zumindest für mein Empfinden, unvorstellbar schön. Würde ich auch gern können. Kann aber nur Goethe. Und vielleicht ein bisschen auch Eduark Mörike mit seinem blauen Band, den der Frühling durch die Lüfte flattern lässt.

Besucherlein, verweile doch…
Lesen Sie doch auch ein paar Gedichtfreundsche Gedichte! Fast genauso schön wie von Goethe.
Noch ein Sonnengedicht
Ich trinke ihre Milch
ich leide unter ihrem Brand
ich trage ihren Hut
und lieg an ihrem Strand.
Ich seh wie sie lacht
und ihre Finsternis
sie hat Götter gebracht
and she gives me a kiss.
Die Sonne hat viele Gesichter.
Die Sonne hat viele Geschichten.
Sie ist der übelste Belichter
es ist schwer, sie zu bedichten.
Einsame Erde
Fliegt durch die Nacht, immer allein.
Nähert sich, entfernt sich wieder.
Kann niemals gemeinsam sein,
die Schwerkraft schüchtern, bieder.
Dabei zieht sie durchaus an –
gibt sich selbst so viel Gewicht.
Doch Kontakte, irgendwann?
Findet sie nicht.
Sonne, Mond, Kometen, Sterne,
sie werden nie der Erde Bier.
Sie grüßt für immer aus der Ferne.
Ihre einzigen Freunde: sind wir?
Kein Wurmfreund
Ein Ri-! Ein Ra-! Ein Riesenwurm!
Mir wird angst und bange!
Oh, wohl doch nur eine Schlange.
Umsonst war dieser Paniksturm.
Denn Würmer sind mir stets ein Graus,
da lob ich mir das Züngeltier.
Das ist stets fürsorglich zu mir,
denn ein Wurm ist ihm ein Gaumenschmaus.
Okay, das Gift und ja, der Glitsch,
aber haben Sie je Wurm gesehen?
Mit Schlange wird er schnell vergehen,
sie frisst ihn auf mit einem Witsch.
