Vor buchstäblich hunderten von Jahren zierte eine kleine Kreideinschrift eine Wanderschutzhütte im Harz: Dies war der Text von „Über allen Gipfeln ist Ruh'“, handschriftlich dort platziert von niemand geringerem als Johann Wolfgang von Goethe selbst. Die Hütte steht längst nicht mehr im Original, aber die Erinnerung an das Gedicht – das eigentlich nur ein Teil eines zweiteiligen Gedichts („Wandrers Nachtlied“ – das andere ist „Der du von dem Himmel bist“) bleibt bestehen. Lesen Sie es hier im Original mit einigen Gedanken!
Dieses Gedicht gehört zu den bekanntesten Werken deutscher Lyrik – hier finden Sie mehr berühmte Gedichte.

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Die wichtigsten Gedichte von Goethe finden Sie hier, beim Gedichtefreund gibt es aber auch eine Menge weiter Wald- und Naturgedichte.
Viel Spaß!
Wandrers Nachtlied – Beide Gedichte
Zunächst zeigen wir hier das berühmtere der beiden Gedichte, meist als „Über allen Gipfeln“ bekannt.
Über allen Gipfeln / Ein Gleiches
Ueber allen Gipfeln
Ist Ruh‘,
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.
Goethe, 1780
Zum „Diptychon“ Wandrers Nachtlied gehört untrennbar – auch wenn es einige Jahre zuvor geschrieben wurde – auch „Der du von dem Himmel bist“. weiter unten erklären wir, was es mit diesem Zusammenhalt der beiden Gedichte auf sich hat.
Der du von dem Himmel bist
Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest;
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!
Goethe, 1776

Gedanken zu den Gedichten
Lassen Sie uns zunächst kurz über die beiden Gedichte als Einheit sprechen und warum die Nomenklatur darum so kompliziert ist. Die meisten von Ihnen werden unter „Unter allen Gipfeln ist Ruh'“, „Ein Gleiches“ und „Wandrers Nachtlied“ an das erste Gedicht denken.
„Der du von dem Himmel bist“ ist einige Jahre älter und wurde von Goethe ursprünglich mit „Wandrers Nachtlied“ betitelt, es erschien auch in dieser Form kurz nach Veröffentlichung. „Über allen Gipfen ist Ruh'“ wurde einige Jahre später geschrieben, ist aber erst einige Jahrzehnte später erstmals veröffentlicht worden – damals direkt unter ersterem, überschrieben mit „Ein Gleiches“.

Mit der Zeit ist das zweite Gedicht – wohl, weil es mehr Leute angesprochen hat, auch vertont wurde, etc. – mit dem „Wandrers Nachtlied“ gleichgesetzt worden, obwohl es eigentlich ursprünglich nicht so hieß.
Lesen Sie diese Erklärung mit Vorsicht: Ich habe sie mehr oder weniger vom Wikipedia-Artikel abgeschrieben.
Nun aber zum wichtigeren Teil: Den Gedanken zum Gedicht.
„Unter allen Gipfeln“ begleitet mich schon sehr lange. Ich war in meinem Leben nie todessehnsüchtig, habe bislang (klopf auf Holz) noch nie einen geliebten Menschen verloren. Trotzdem haben mich die 9 Zeilen immer schon berührt – warum bloß?
Der Tod berührt natürlich jeden Menschen irgendwie, die einen fürchten ihn mehr als die anderen – aber so richtig kalt lässt einen das Thema freilich nicht. In meinem beruflichen Leben habe ich viele Menschen kennengelernt, die dem Tod nahestanden, einige Menschen, Erwachsene und Kinder, sterben erlebt und nochmal deutlich mehr bereits Verstorbene gesehen. Aber hat das mein Bild vom Tod verändert und meine Gefühle dahingehend? Die Frage kann ich mir selbst nicht recht beantworten.
Allerdings gilt das Gleiche für den Tod in der Lyrik: Herbst von Rilke, Auf den Tod eines kleinen Kindes von Hesse oder eben Unter allen Gipfeln ist Ruh‘ – aus all diesen Gedichten spricht, dass der Tod zum Leben dazu gehört, unvermeidlich ist, und dass der Tod eben darum auch seine angenehmen Seiten haben kann. Diese (und natürlich viele mehr) Gedichte sind immer auch trostspendend, helfen dem Lesenden eventuell, den nahenden (denn er naht ja für jede*n, unabhängig davon, ob er noch Jahrzehnte auf sich warten lässt) Tod gelassener zu akzeptieren.
Aus „Über allen Gipfeln“ lässt sich eine Drohung herauslesen – „Warte nur, balde“ – das klingt wie die strenge Mutter, die dem unartigen Bürschchen damit droht, was passiert, wenn der Vater nach Hause kommt. Aber vielleicht klingt es auch wie ein Versprechen: Das Leben ist so unruhig, teilweise unaushaltbar chaotisch, oft unfair, manchmal schwer zu ertragen. Aber die Person im Gedicht nimmt plötzlich alles ruhig wahr – die Umgebung kommt zur Ruhe, interessiert vielleicht nicht mehr so sehr. Die Vögel müssen nicht mehr zwitschern, der Wind darf die Wipfel still stehen lassen. Eine angenehme Ruhe. Die sich vielleicht auch der Schreiber wünscht?
Ähnlich todesbejahend, verbunden mit einer Art Gebet, ist ja auch „Der du von dem Himmel bist“. Das Gute wie das Schlechte im Leben dürfen ein Ende haben – der Schmerz und die Lust – und man freut sich darauf, endlich zur Ruhe zu finden.
Als an einem meiner Arbeitstage der Tod sehr präsent war – mitten in uns geweint hat – habe ich im Dienstzimmer „Über allen Wipfeln ist Ruh“ an die Tafel geschrieben. Das hat mir persönlich sehr viel Trost gespendet.
Es stand da fast zwei Jahre lang, ohne dass es jemand weggewischt hätte.

Hier noch ein paar kurze eigene Gedichte.
Gedicht über den Tod
In unserer Mitte steht er, der unbarmherzig blickt,
der unsere Zeit mit seiner Uhr unverhandelbar vermisst.
Nur eines ist uns klar: dass er uns schickt –
wir wissen nur nicht, wann es ist.
Kurzes Trauergedicht
Ein Schnee fliegt leise in das Land.
Lässt sich nieder, hüllt uns ein.
Lässt uns atmen, wäscht uns rein.
Und wen von uns die Trauer fand,
den lässt er einfach sein.
Später Herbsttag
Illustre Schemen
unruhige Alleen
glitzernd letzte Strahlen
von vielem nur noch Schalen:
Alles zieht zurück, in sich hinein.
Ein letzter Blick. Ein letzter Schein.
Ein letztes Sein.
Von einigem ein Letztes
Ein letzter Rausch
ein letzter Hauch
ein letzter Tausch
ein letzter Brauch.
Von Farben und Formen
von Winden und Wettern
von Regeln und Normen
von Schmeicheln und Schmettern.
Zieh dir die Übergangsjacke an!
Wenn nicht heute, wann dann –
Der Herbst steht vor dem Tor.
Wir sind Auge, wir sind Ohr.
