Das Sonett „Auf der Terasse des Café Josty“ ist das wohl bekannteste Werk des früh verstorbenen Expressionisten Paul Boldt. Wie so viele Gedichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts handelt es sich um eine nicht gerade positiv ausfallende Stadtbetrachtung, in diesem Fall (wie in so vielen Fällen) in Berlin – genauer gesagt auf dem Potsdamer Platz.
Dieses Gedicht gehört zu den bekanntesten Werken deutscher Lyrik – hier finden Sie mehr berühmte Gedichte.
Hier finden Sie den Text des Gedichts sowie einige Erwägungen. Und hier mehr Gedichte von Paul Boldt.
Viel Spaß!
Das Gedicht
Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll
Vergletschert alle hallenden Lawinen
Der Straßentrakte: Trams auf Eisenschienen,
Automobile und den Menschenmüll.
Die Menschen rinnen über den Asphalt,
Ameisenemsig, wie Eidechsen flink.
Stirne und Hände, von Gedanken blink,
Schwimmen wie Sonnenlicht durch dunklen Wald.
Nachtregen hüllt den Platz in eine Höhle,
Wo Fledermäuse, weiß, mit Flügeln schlagen
Und lila Quallen liegen – bunte Öle;
Die mehren sich, zerschnitten von den Wagen. –
Aufspritzt Berlin, des Tages glitzernd Nest,
Vom Rauch der Nacht wie Eiter einer Pest.
Überlegungen zum Gedicht
Bin ich überhaupt ein richtiger Gedichtefreund?
Dieser Frage muss ich mich stellen, nenne ich mich doch so – habe aber zuvor noch nie von diesem Gedicht gehört. Und auch nicht von Paul Boldt. Und das obwohl ich fünf Jahre in Berlin gelebt habe.
Die Schande.
Das ändert wenig daran, dass ich sofort erkenne, dass es sich hier um ein großes Werk handelt: Das war damals so. Man musste nur 100 Metaphern und ähnliche rhetorische Figuren pro Quadratmeter Gedicht nutzen, schon wurde es berühmt.
Na gut, das stimmt vielleicht nicht. Ich will nur auf bösartige Weise rechtfertigen, dass ich dieses Gedicht nicht kannte.
Was ich besonders interessante finde, ist, dass dieses Gedicht hundert Jahre später noch Bestand hat. Der Potsdamer Platz sieht längst nicht mehr so aus, wie damals – heute steht dort das Sony Center, ein pesteitrig-hässlicher oder glitzernestig-wunderschöner Gebäudekomplex, je nachdem, wie Sie das sehen. Was man auf jeden Fall sagen kann: Dort ist es immer noch laut. Ameisenemsig. Ewig brüllend.
Im Jahr 2013 – also genau 101 Jahr, nachdem Paul Boldt „Auf den Terrassen des Café Josty“ verfasste, und genau ein Jahr, nachdem ich nach Berlin gezogen war, fuhr ich im Taxi vom Wedding Richtung Potsdamer Platz. Meine damalige Freundin würde dort ein Konzert mitveranstalten, was ich auf keinen Fall verpassen durfte. Dummerweise hatte ich in der U-Bahn auf dem Weg dorthin bemerkt, dass ich die Tickets vergessen hatte – also zurück und aus Zeitmangel mit dem Taxi wieder hin.
Ich kam mit dem Taxifahrer ins Gespräch, der viel zu erzählen hatte. Er war etwa Mitte 40, türkischer Abstammung, aber in Berlin geboren. Kaum kamen wir am Potsdamer Platz an, erzählte er, wie sehr sich der Platz verändert hatte, seit seiner Kindheit: „Genau wo wir jetzt stehen, hab ich als Kind Fußball gespielt mit meinen Freunden. Das ist heute nicht mehr möglich“. Wir schauten, an der Ampel stehend, die nächtliche Fassade des Sony Centers hinauf, betrachteten den unsäglich dichten Verkehr. Und wir dachten:
„Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll
Vergletschert alle hallenden Lawinen
Der Straßentrakte: Trams auf Eisenschienen,
Automobile und den Menschenmüll.“
Nun, das dachten wir natürlich nicht direkt. Aber hier sehen Sie, was Paul Boldt geschafft hat: Einen kleinen Grashalm in der endlosen Wiese der Ewigkeit der Zeit hat er beschrieben. Die Wiese mag sich in dieser Periode – zumindest aus menschlicher Sicht – verändert haben, und auch der Grashalm. Aber das Gefühl, das Boldt 1912 bei der Betrachtung dieses Grashalms hatte: Es ist geblieben.
Paul Boldt, meine Damen und Herren, mit seinem Werk „Auf der Terrasse des Café Josty“. Lesen Sie mehr von ihm – ich werde es auch tun.
Für eine ganz ähnliche Stimmungslage lesen Sie gerne auch „Augen in der Großstadt“ von Kurt Tucholsky, zwanzig Jahre später verfasst.
Wo Sie schon mal hier sind …
Oktober
Die Zeit ist nun schon nicht mehr aufzuhalten
die Blätter fallen leise zum Beweis.
Es hilft nun nicht mehr uns‘re Händ zu falten
der Winter naht, und er naht nicht leis‘.
Zwar hat Oktober noch ein gold‘nes Händchen,
mit dem er uns ein süßes Bild beschert.
Doch lauter Sturm singt uns derweil ein Ständchen
uns die Erinnerung an warme Tag‘ verwehrt.
Über Wind und Regenwetter woll‘n wir klagen
mit dem er uns so manches Male quält.
Doch vielleicht werden wir in wen’gen Tagen
merken dass uns der Oktober jetzt schon fehlt.
Berlin (Limerick)
Es zog mal ein Zaubrer nach Berlin
Vielleicht war sein Vorname Merlin
wollte lernen dort zaubern
doch fing an zu zaudern
ging fortan nur noch clubben in Berlin.
Die Nacht
Und wieder bricht sie herein.
Feuer werden entfacht,
müssen bald bei Laune sein.
Und da ist sie schon, die Nacht.
Vögel und Menschen singen nicht mehr,
nirgendwo wird mehr gelacht.
Viel Sicherheit gibt sie nicht her,
die Nacht, mit ihrer Schwärze.
Es fürchtet sie so mancher Herr.
Manchem führte sie zu Schmerze,
so manchem hat sie Leid gebracht.
Wenn du hast, nimm eine Kerze.
Wenn du kannst, dann übersteh die Nacht.