Joseph von Eichendorff: Sehnsucht

„Sehnsucht“ von Eichendorff ist eines der berühmtesten Gedichte der Romantik und eines der beliebtesten deutschen Gedichte überhaupt. Es erschien erstmals im Jahr 1834 und beschreibt, wie das lyrische Ich in der dämmernden Nacht am Fenster steht und sehnsuchtsvoll nach draußen schaut und lauscht.

Dieses Gedicht gehört zu den bekanntesten Werken deutscher Lyrik – hier finden Sie mehr berühmte Gedichte.

Ach wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!
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Auf dieser Seite finden Sie den Gedichttext und einige Assoziiationen dazu. Hier gibt es mehr Gedichte von Eichendorff, bei uns auch sein wohl berühmtestes, die „Mondnacht„. Und wir haben auch eine ganze Reihe Naturgedichte.

Viel Spaß!

Das Gedicht

Sehnsucht.

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leibe entbrennte,
Da hab‘ ich mir heimlich gedacht:
Ach wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!

Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.

Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die über’m Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht,
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht. –

Gedanken zum Gedicht

Manchmal glaubt man, wir leben in einer zweiten Romantik. Damals, zu Beginn der Industrialisierung, sehnten sich die Menschen nach der Natur, die ihnen zu entschwinden drohte. Sie sehnten sich nach Abenteuern unterm freien Himmel, in Einklang mit Wald, Bach und Berg. Haben Ihnen die Maschinen Angst gemacht? Haben Sie sich vom wahren Naturell des Menschen verabschiedet, je mehr ihre Leben und Existenzen durch die modernen Segen vereinfacht wurden?

Ich bin sicher, viel emeiner Leser können dieses Gefühl so für sich nachvollziehen. Nun, wo wir die Industrialisierung längst hinter und gelassen haben und uns der unaufhaltbaren Fahrt der Mega-Digitalisierung und -Automatisierung immer steil bergauf befinden. In Zeiten, wo uns der Himmel in Form von Dürren, Starkniederschlägen und todbringenden Hitzewellen buchstäblich auf den Kopf zu fallen droht und wir trotzdem nur wie blöde auf unsere Handybildschirme starren (ertappt! oder lesen Sie etwa am PC? Wie altmodisch), sehnen wir uns da nicht auch nach Abenteuern unterm freien Himmel? Nach Einklang mit Wald, Bach und Berg? Macht uns die Technologie nicht auch irgendwie Angst? Haben wir uns nicht auch vom wahren Naturell des Menschen verabschiedet, je mehr unsere Leben durch die modernen Segen vereinfacht wurden?

Sitzen wir nicht auch an Fenstern und schauen nach draußen und horchen in die Nacht? Nur dass unsere Fenster zu jeder Tages- und Nachtzeit weißblau leuchten und wir nicht nur die Lichter und Geräusche des nächsten Kilometers erspähen, sondern die der ganzen Welt. Diese Welt wächst immer näher zusammen, und trotzdem ist sie uns eklatant fremd geblieben. Wir können sie gar nicht mehr kennenlernen, so groß ist sie. Aber was wir lernen können, ist das zurückziehen auf das Kleinere: Auf die Natur, die uns (noch) umgibt, zu der wir gehören, und aus der wir sind.

Was ein Gedicht wirklich großartig macht, ist seine Zeitlosigkeit. Wenn wir spüren, dass der Autor oder die Autorin der gleiche Typus Mensch war, wie wir selbst – vielleicht hat er hunderte Jahre vor uns gelebt, aber wir verstehen seine Gefühle durch die Zeilen, die er schrieb. Weil wir die gleichen Gefühle haben, in ähnlichen Situationen, sei es, wenn wir unsicher durch’s Moor stapfen, oder wenn wir über eine verlorene Liebe weinen.

So geht es mir auch mit Eichendorffs „Sehnsucht“: Ich kenne diese Sehnsucht, und ich male mir aus zu wissen, was Eichendorff gespürt hat, als er dieses Gedicht ersann. Das Verlangen nach Abenteuer, nach Natur, wilder Romantik und dem simplen Leben.