„Augen in der Großstadt“ ist eines der berühmteren Gedichte Kurt Tucholskys. Es wurde 1930 erstmals veröffentlicht und behandelt das anonyme Leben in der Stadt – vielleicht in Berlin, wo Tucholsky einen großen Teil seines Lebens verbrachte.
Dieses Gedicht gehört zu den bekanntesten Werken deutscher Lyrik – hier finden Sie mehr berühmte Gedichte.
Hier finden Sie den Text des Gedichts sowie eine kurze Interpretation. Und hier finden Sie mehr Gedichte von Kurt Tucholsky.
Wenn Sie wollen, lesen Sie noch ein paar (schöne) Gedichte über das Leben.
Viel Spaß!
Das Gedicht
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
dann zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Vielleicht dein Lebensglück…
vorbei, verweht, nie wieder.
Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast’s gefunden,
nur für Sekunden…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück…
vorbei, verweht, nie wieder.
Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.
Eine sehr kurze Interpretation
Ich hatte einen Freund in der Schule, der mit einem Zitat in unsere Abizeitung einging:
Die Interpretation eines Gedichts sei nichts anderes als die perverse Zerfleischung eines für sich stehenden Stücks Lyrik. Mit aller Macht müsse aus den Zeilen herausgekratzt werden, was der oder die Autorin überhaupt nicht beabsichtigt hätte. Es sei reine Zeitverschwendung und dem Denkmal eines Dichters überhaupt nicht angemessen – woher wisse man schließlich, was die Verfasserin überhaupt gemeint habe? Sie sei schließlich tot und niemand habe sie gefragt.
Manchmal sei ein rotes Tuch eben einfach ein rotes Tuch.
Der Schulkollege hat damit natürlich völlig Unrecht. In den meisten Gedichten ist ein Tuch eben doch aus einem bestimmten Grund rot und es öffnet dem Leser ganz neue Erkenntnisse, einen Blick hinter die Bühne zu werfen, auf der die Buchstaben sich zu Wörtern und Versen formen.
Aber eines muss ich zugeben: Mich haben schon immer die Gedichte am ehesten fasziniert, wo hinter der Bühne etwas eindeutiges steht. Und dies betrifft meist die Lyrik der „Neuen Sachlichkeit“.
So ist es auch bei „Augen in der Großstadt“ von Tucholsky. Kurt Tucholsky war Deutscher aus Berlin, im Jahre 1930 lebte er bereits in Schweden im Exil. Allein aus seiner Biografie heraus lassen sich in diesem Gedicht sicher tausende von Ansätze zur Interpretation finden. Auch was die einzelnen Wörter und Sätze und rhetorischen Figuren angeht – die Antikörperchen machen da einen grandiosen Job, wie ich finde.
Mich begeistert das, was eindeutig ist: Die großartige Beschreibung der tristen Anonymität der Großstadt. Der Erzähler spricht uns direkt an, er weiß von unseren Sorgen. Wir alle haben Sorgen, manche sind weithin bekannt oder sogar sichtbar, die meisten jedoch tragen wir mit uns allein herum, sind höchstens unseren engsten Freunden bekannt.
Mit diesen Sorgen – von denen wir denken „Ach, warum muss es gerade mich treffen!“ – gehen wir durch die Stadt, kennen nur uns selbst, kennen nur unsere eigenen Probleme, denken mithin, wir seien sogar die einzigen, die überhaupt Probleme haben. Ehe uns aber Tucholsky diesen Zahn schon in der ersten Strophe zieht: Da ziehen Millionen von Menschen vorbei, die wir so wenig kennen, dass jede davon unser Lebensglück bedeuten könnte. Wir wissen nichts über sie, sie rauschen vorbei, aber was maßen wir uns also an, zu glauben, wir seien die einzigen mit Sorgen?
Vom frühen Morgen, der uns bereits mit Sorgen empfängt, zieht er dann in der zweiten Strophe den Bogen auf unser ganzes Leben. Unser ganzes Leben sind wir umgeben von Millionen „Anderen“, wir kriegen höchstens einen Bruchteil, einen Pulsschlag – „Was war das?“ – dessen mit, was um uns herum geschieht.
Wir blicken in all die Augen, jeden Tag, in den „Spiegel der Seele“ der Menschen und wissen doch nichts davon, was diesen Menschen ausmacht.
Allein für diese, zugegeben nicht schwer erkennbare Interpretation, lohnt sich „Augen in der Großstadt“ meiner Meinung nach. Es lohnt sich, mit allen Heranwachsenden einmal dieses Gedicht zu lesen und darüber zu sinnieren, was es eigentlich heißt, „Ich“ zu sein unter Milliarden anderer Menschen.
Um den Heranwachsenden damit vielleicht dafür die Augen zu öffnen, dass wir nichts vom Anderen wissen, solange wir nicht einen größeren Teil der uns begrenzt zur Verfügung stehenden Pulsschläge dafür nutzen, ihn oder sie kennenzulernen.
Die gleiche Stadt – jedoch mit noch etwas anderer Gefühlslage – hat Paul Boldt „Auf der Terrasse des Café Josty“ zwanzig Jahre zuvor beschrieben.
Wo Sie schon mal hier sind …
Das Gewitter in mir
Es donnert, dann ein Blitzen.
Irgendwann regnet es auch.
Du sitzt mir gegenüber,
etwas flitzt durch meinen Bauch.
Du singst dann ein Lied,
ich weiß nicht, wie es heißt.
Du sitzt mir gegenüber,
es ist, als ob es mich zerreißt.
Endlich kommst du näher,
Lichter durchzucken die Nacht.
Sie erhellen deine Augen,
als es draußen weiter kracht.
Deine Lippen berühren meine.
Ich will für immer bei dir sitzen.
Mein Herz fühlt etwas Neues:
Es donnert, dann ein Blitzen.
Ein Mann geht zum Mond
Ein Mann geht zum Mond.
Der Weg ist weit,
ob sich das lohnt?
Es ist sicher nur Eitelkeit
die ihn dazu treibt
immerhin, der Mann hat Schneid.
Er weiß, dass er Geschichte schreibt
denn nie zuvor ging man zu Fuß
ein Rekord, der wohl bestehenbleibt.
Er richtet seine Hand zum Gruß
Geht den ersten Schritt in den Weltraum.
Und, das Gedicht wird jetzt zum Blues –
Da ist auch schon aus der Traum.
Der Mann erstickt, nicht weit gebracht.
„Der war schon immer so ein Clown“,
sagt jemand, „ich hab’s mir gleich gedacht.“
Einsame Erde
Fliegt durch die Nacht, immer allein.
Nähert sich, entfernt sich wieder.
Kann niemals gemeinsam sein,
die Schwerkraft schüchtern, bieder.
Dabei zieht sie durchaus an –
gibt sich selbst so viel Gewicht.
Doch Kontakte, irgendwann?
Findet sie nicht.
Sonne, Mond, Kometen, Sterne,
sie werden nie der Erde Bier.
Sie grüßt für immer aus der Ferne.
Ihre einzigen Freunde: sind wir?
Verliebt in eine Frau mit außergewöhnlichem Beruf, oder: Vergleichsgedicht für Stand und Land
Zunächst die Stadt:
Kaputt, schmutzig und laut.
Was die Stadt nicht hat:
Wiesenschaum und -kraut.
Dann das Land:
Einsam, bieder, zahm.
Was das Land nicht hat:
Altbaucharme und Kram.
Und dann beide:
Du bist in beiden nicht, ach Mist.
Ich schau zum Himmel und ich leide
weil du Astronautin bist.