Rilke: Der Tod ist groß

Rilkes „Der Tod ist groß“, oft auch mit der zugesetzten Klammer „(Schlußstück“) ist eines der berühmtesten und vielleicht DAS kürzeste berühmte Gedicht des melancholischen Dichters. Es personifiziert den Tod, der plötzlich zuschlägt, wenn wir nicht damit rechnen.

Dieses Gedicht gehört zu den bekanntesten Werken deutscher Lyrik – hier finden Sie mehr berühmte Gedichte.

Gerade noch das blühende Leben –
im nächsten Moment Asche.
„wenn wir uns mitten im Leben meinen…“
Foto von Karsten Winegeart auf Unsplash

Hier finden Sie den Text des Gedichts sowie ein paar kurze Gedanken. Hier finden Sie Trauergedichte und hier einige Gedichte zum Abschied, nicht immer mit Todesbezug.

Das Gedicht

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.

Gedanken zum Gedicht

Statt einer Interpretation, die den Anforderungen des Oberstufen-Deutschunterrichts genügt, versuche ich an dieser Stelle immer, einige Gedanken oder Ideen zum Gedicht zusammenzutragen (erstes haben nämlich schon klügere Personen getan).

Heute möchte ich mal an Sie zurückfragen: Woran denken Sie, wenn Sie „Der Tod ist groß“ lesen? Ich bin sicher, dass die meisten Menschen schon einmal mit genau der Situation konfrontiert waren – dass der Tod eben plötzlich kommt, unerwartet – viel öfter vielleicht, als dass er erwartbar eintritt. Selbst bei Menschen, die unheilbar krank sind, scheint er Umstehende oft zu überraschen; oder wenn altgewordene, liebgebliebene Personen mit zahlreichen Vorerkrankungen plötzlich im Schlaf versterben.

Noch heftiger trifft uns der Tod, wenn jemand mitten im Leben steht. Ein geplatztes Aneurysma, ein Unfall, ein Anschlag – täglich sterben Menschen, auch zu früh, aber besonders dann, wenn wir so gar nicht damit rechnen konnten, scheint es uns besonders heftig den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Es dauert dann lange, über den Verlust hinwegzukommen. Manch Autorin oder Autor vermochte es meisterhaft, Trost zu spenden, ich denke dabei an Hesses „Auf den Tod eines kleinen Kindes„. Aber Rilke setzt im Moment des „Zuschlagens“ an, in dem Moment, wo der Tod „in uns“ zu weinen wagt.

Was bedeutet das für Sie – er „wagt in uns zu weinen“? Was schwingt da mit? Weint er in uns, weil wir jemanden verloren haben? Oder weint er in unserer gesellschaftlichen Mitte, und sein Weinen ist das, was den Unglücklichen tötet? Warum wagt er zu weinen? Weil es eine empörende Idee von ihm ist, durch sein Weinen jemandes Tod zu verursachen? Oder weil es ihn selber schmerzt? Warum weint er überhaupt? Und wer ist es, der hier lacht – sind wir es, die „lachenden Munds“ mitten im Leben stehen und dann plötzlich überrascht werden? Oder ist er es, der lacht, mit seiner Skelettfratze, auf der er das Lachen gar nicht abstellen kann?

So sind Gedichte: Mal liest man sie so, mal anders. Mal berühren sie uns stark, mal nicht so sehr, ähnlich wie zum Beispiel ein Lied. Das kann jeder verstehen, der schonmal „Junimond“ von Rio Reiser gehört hat, wenn er Liebeskummer hatte. Oder aber, wenn jemand gestorben ist – denn könnte das Lied s nicht ebenso vom Tod handeln, wie von einer verlorenen Liebe?

Und beim „Schlußstück“ geht es mir ähnlich. Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, bewegt es mich nicht besonders. Aber ich weiß schon jetzt, das sich das ändern wird – lieber später als früher, wenn ich es mir aussuchen dürfte.

Zur Stimmung passend: Einige Herbsthaiku

Herbsthaiku #1

Bäume schütteln sich
Alte Last werfen sie ab
Ein Fuchs beobachtet stumm.

Herbst #2

Die Kronen sind rot
wieder so feucht ist der Boden
die Erde atmet auf.

Herbst #3

Hirsche senken ihr Haupt
Die Welt wird nun lange rasten
Eine Brise im Wald.

Herbsthaiku #4

Ein Strahl kommt hindurch
Er beleuchtet das Geweih
Jetzt schaut das Reh auf.

Herbst #5

Ein Wind kommt über’s Meer
verfängt sich im Haar einer Frau
Sie spürt es noch kaum.

Herbst #6

Etwas huscht umher:
Ein Eichhörnchen sammelt Nüsse
Sie sind schon rar.

Herbsthaiku #7

Ein Blatt: Fällt und fällt.
Tanzt schlingernd seinen Tanz –
bleibt dann ewig liegen.

Herbst #8

Der Wind rüttelt und
die Fensterläden klirren.
Gut, drinnen zu sein.

Herbst #9

Eine Stadt im Herbst
Menschen wuseln, sie sammeln
Gedankenvorräte.

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